Digitale Barrierefreiheit: So wappnen sich Unternehmen für die neuen gesetzlichen Vorgaben

Den 28. Juni 2025 haben sich bereits jetzt viele Menschen rot im Kalender markiert: An diesem Tag tritt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Kraft und digitale Produkte und Dienstleistungen, die sich an Verbraucher*innen richten, müssen barrierefrei sein. Wir haben mit Mihaela Sartori von hmmh darüber gesprochen, welche Probleme das Gesetz löst, welche Veränderungen es anstößt und wie Unternehmen ihre digitalen Auftritte schon jetzt darauf vorbereiten können.

„Blinde Menschen shoppen online – wir müssen sie nur lassen!“  Wenn Mihaela Sartori einen Vortrag über digitale Barrierefreiheit hält, steigt sie gern mit diesem Titel ein. „Es ist noch immer ein weit verbreiteter Irrglaube, dass man bei der Entwicklung von digitalen Angeboten Menschen mit Beeinträchtigung oder Behinderung nicht mitdenken muss“, berichtet die Bremerin, die bei der Bremer Agentur hmmh als Accessibility Consultant arbeitet. „Es heißt beispielsweise oft, blinde Menschen würden Online-Shops selten nutzen. Das ist aber totaler Quatsch.“

Eine Trendstudie zur digitalen Teilhabe von Aktion Mensch bestätigt ihre Aussage. Aus ihr geht hervor, dass Menschen mit Beeinträchtigung Online-Shops im Durchschnitt häufiger nutzen als Menschen ohne Beeinträchtigung. Dass Menschen mit Behinderung auch darüber hinaus „Power User“ der Sozialen Medien und des Internets sind, ist nachvollziehbar. Digitale Lösungen ermöglichen ihnen, Dinge zu tun, die sie im analogen Leben oft nicht tun können: Sich mit anderen austauschen, öffentlich über ihre Situation sprechen, ihrem Arzt Informationen schicken, sich Antragsformulare besorgen oder per Live-Stream bei einem Konzert oder Sportereignis dabei sein.

Digitale Barrierefreiheit: Mit gut gepflegtem HTML mehr Geld verdienen

Allein aus moralischen Gründen rät Mihaela Sartori deshalb immer dazu, Accessibility als einen festen Punkt in die Definition of Done eines Projektes aufzunehmen. Daneben gäbe es auch wirtschaftliche Gründe: „Unternehmen verlieren User*innen, wenn sie nicht auf Barrierefreiheit achten. Die Click Away Pounds Survey aus Großbritannien hat zum Beispiel herausgefunden, dass 70 Prozent der Menschen, die durch unüberwindbare Barrieren keinen Kauf in einem Online-Shop abschließen konnten, diesen Online-Shop kein zweites Mal besuchen. Web-Shops verlieren also buchstäblich Geld, wenn sie es nicht schaffen, ihre HTML-Tags vernünftig zu pflegen. “

Web-Shops verlieren Geld, wenn sie es nicht schaffen, ihre HTML-Tags vernünftig zu pflegen.

(Mihaela Sartori, Accessibility Consultant bei hmmh multimediahaus AG)

Die korrekte Anwendung von bestehenden Web-Standards, insbesondere semantisch korrektes HTML, sei es nämlich, worauf Barrierefreiheit beim Coden im Kern beruht. Weil Screenreader und andere technische Hilfsmittel damit fehlerfrei interagieren können. „Inzwischen werden in der Software-Entwicklung aber häufig Frontend Frameworks, also vorgefertigte Grundstrukturen, genutzt. Die helfen dabei, schneller und einfacher Websites oder -Apps zu erstellen“, erklärt Sartori. „Dadurch mussten sich manche Entwickler*innen nie so richtig mit sauberem HTML auseinandersetzen, weil sie Vorgefertigtes individuell anpassen. Das verursacht dann, dass Screenreader die notwendigen strukturierenden Elemente nicht finden, um durch Seiten zu steuern.“ Fehlende oder unpassende Bild- und Linkbeschreibungen würden die Situation noch zusätzlich erschweren.

Digitale Barrierefreiheit: Vom richtigen Kontrast profitieren alle

Farben zu wählen, die zusammen einen starken Kontrast bilden, und mit den Farben Rot und Grün achtsam umzugehen, sind Maßnahmen, von denen man beim Stichwort Barrierefreiheit häufig hört, die einfach umzusetzen sind, aber trotzdem noch immer nicht flächendeckend berücksichtigt werden. Mihaela Sartori hat ein Beispiel parat: „Man sieht es häufig, dass Felder in Kontaktformularen zart rot umrandet werden, um darauf hinzuweisen, dass sie vor dem Absenden noch ausgefüllt werden müssen. Das können Menschen mit Rot-Grün-Schwäche kaum erkennen und kann auch schnell von Menschen ohne Farbfehlsichtigkeit übersehen werden.“ Besser sei es an dieser Stelle, einen gut lesbaren Hinweis wie „Bitte hier noch die E-Mailadresse eintragen“ einzufügen. Der fiele auch Menschen ohne Sehbeeinträchtigung besser ins Auge und es ist klar, was zu tun ist, um den Fehler zu beheben.

Digitale Barrierefreiheit kommt nicht nur einer kleinen Gruppe zugute, sondern allen Menschen.

Überhaupt sei es so, dass nahezu alle Maßnahmen für mehr digitale Barrierefreiheit auch für Personen ohne Behinderung oder Einschränkung dienlich seien. „Eine Maßnahme, die es einem Menschen mit fehlendem rechten Arm möglich macht, ein Smartphone zu bedienen, hilft auch einer Person, die für ein paar Minuten auf dem rechten Arm ein Baby hält oder mehrere Wochen den rechten Arm in Gips hat. Gleiches gilt mit Blick auf Lesbarkeit: Spätestens im hohen Alter sind wir alle froh, wenn wir Text größer stellen oder in ihn hineinzoomen können. Digitale Barrierefreiheit kommt also nicht nur einer kleinen Gruppe zugute, sondern allen Menschen.“ 

Digitale Barrierefreiheit: Das können Unternehmen jetzt tun

Doch was kann ein Unternehmen konkret tun, um auf die neuen gesetzlichen Richtlinien vorbereitet zu sein? „Die gute Nachricht vorab: Ich habe es noch nie erlebt, dass eine Website komplett neu entwickelt werden musste, um die Accessibility zu verbessern“, beruhigt Mihaela Sartori. „In der Regel müssen bestehende Komponenten nochmal angefasst und überarbeitet werden. Klar, das ist Aufwand, den man entweder selbst erledigen oder an externe Dienstleister*innen vergeben muss.“

Info Barrierefreiheitsstärkungsgesetz

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) verpflichtet Unternehmen und öffentliche Stellen dazu, ihre digitalen Angebote barrierefrei zu gestalten. Es betrifft beispielsweise Websites, Apps, Online-Formulare und E-Government-Dienste. Die konkreten Anforderungen orientieren sich an den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG). Die Richtlinien gelten für alle neuen digitalen Produkte und Dienstleistungen sowie für bestehende Onlineshops. Für einige bereits bestehende Produkte und Dienstleistungen, beispielsweise für Selbstbedienungsterminals, gelten Übergangsfristen. Bei Nichtbeachtung des BFSG drohen Abmahnungen, Bußgeldern und Imageverlust. Rein private Websites, die keine kommerziellen Interessen vertreten, unterliegen den Richtlinien nicht.

Alle offiziellen Informationen zum BFSG

Diesen Prozess würde man idealerweise mit einer Analyse starten. Einen ersten Eindruck, wie gut oder schlecht die Accessibility aktuell ist, können automatisierte Tools wie Google Lighthouse liefern. Vollständige Checks zur Barrierefreiheit legt man besser in die Hände von Fachleuten, da automatisierte Tools nicht in der Lage sind, alle Barrieren zu finden oder einzuordnen. Die Maßnahmen, die sich aus der Analyse als notwendig ergeben, könne man dann Schritt für Schritt abarbeiten. „Man muss nicht alles auf einmal machen“, beruhigt Sartori, die sich bereits seit vier Jahren im Rahmen einer eigens dafür gegründeten hmmh-Task-Force mit dem Thema beschäftigt.

Anwender*innen im eigenen Team zu sensibilisieren und zu schulen, sollte parallel auch im Blick behalten werden – gerade wenn in einem Content Management System gearbeitet wird. Sinnvoll sei es außerdem, ab sofort jedes neue Feature, das auf einer Website integriert wird, entsprechend der BFSG-Richtlinien entwickeln zu lassen. „Ab Juni 2025 wird das Ganze ohnehin Compliance getrieben sein“, sagt Sartori. „Ich rechne außerdem damit, dass ähnlich wie das Responsive Design vor einigen Jahren auch die Digitale Barrierefreiheit über Kurz oder Lang Standard sein wird.“

Digitale Barrierefreiheit: Accessibility Overlays keine gute Lösung

Wovon die Accessibility-Expertin eindringlich abrät, ist der Einsatz von Accessibility Overlays. „Overlays sind Drittanbieter Software, die per JavaScript im Browser dann in Echtzeit Anpassungen vornehmen wie die Schriftgröße oder den Farbkontrast zu verändern. Manche scannen die Seite nach Barrieren und versuchen sie automatisiert zu beheben.“

Was zunächst nach einem guten Tool klingt, sei allerdings sowohl Behindertenverbänden als auch der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik ein Dorn im Auge. „Ist ein Webauftritt von sich aus schon nicht barrierefrei programmiert, kann die Nutzung eines Overlay-Tools die Bedienung sogar noch schwerer bis unmöglich machen.“

Usability Test mit Blick auf Barrierefreiheit sind unabdingbar. Nur mit ihnen erhältst du einen wahren Einblick, wie gut eine Website tatsächlich bedienbar ist.

Eine klare Empfehlung spricht Sartori hingegen für User-Test in offiziellen Test-Labs aus. „Für ein großes Shop-Projekt haben wir von hmmh mit einer Stiftung für blinde und sehbehinderte Menschen in Stuttgart kooperiert, in dem blinde und sehbehinderte Menschen mit ihren eigenen Geräten und Hilfstechnologien die Usability unseres Projektes bewerten konnten. Und obwohl unsere Entwickler*innen schon an vieles gedacht haben, sind dort noch viele Schwächen aufgetaucht, die wir als nicht-eingeschränkte Personen einfach nicht erkennen können. Ich kann es nicht anders sagen: Das war enorm augenöffnend für uns!“

Inwiefern das BFSG auf Sie und Ihre Dienste zutrifft, sollten Sie mit Ihrer rechtlichen Beratung bzw. Rechtsabteilung klären. Dieser Artikel ersetzt keine rechtliche Beratung.

Checkliste: Wie barrierefrei ist Ihre Website?

Können Sie diese acht Fragen mit „Ja“ beantworten? Dann performt Ihre Website schon recht gut. Wenn nicht, haben Sie jetzt ein paar erste Tipps zur Hand, was Sie verbessern können. Aber Achtung: Die Checkliste ersetzt keine umfangreiche Analyse darüber, ob alle Richtlinien des Barrierefreiheitsstärkungsgesetz eingehalten werden.

  • Passen die Kontraste? Überprüfen Sie die Kontraste von Texten und Hintergrundfarben, um sicherzustellen, dass Inhalte auch von Menschen mit Sehschwächen gut lesbar sind. Dafür kann beispielsweise ein Kontrast-Checker genutzt werden.
  • Können Ihre Alt-Texte sprechen? Sind für die relevanten Bilder und Grafiken auf Ihrer Website Alt-Texte hinterlegt, die von Screenreadern ausgelesen werden können? Es lohnt sich, die wichtigsten Regeln für Alt-Texte zu verinnerlichen und die entsprechend anzuwenden.
  • Lenkt die Tab-Taste sinnvoll durch die Seite? Stellen Sie sicher, dass alle interaktiven Elemente (Links, Buttons, Formulare) per Tastatur erreichbar und bedienbar sind.
  • Stimmt die Überschriftenstruktur? Verwenden Sie korrekte HTML-Überschriften (H1, H2, H3) und achten Sie darauf, dass sie hierarchisch und logisch strukturiert sind, damit Screenreader sie richtig interpretieren können.
  • Kann gezoomt werden? Überprüfen Sie, ob Ihre Webseite auf Mobilgeräten und Desktop-PCs problemlos gezoomt werden kann, ohne dass das Layout zerfällt.
  • Haben Videos auch Untertitel? Falls Sie Videos auf Ihrer Webseite haben, fügen Sie Untertitel hinzu, um sie auch für hörbehinderte Menschen zugänglich zu machen.
  • Sind Link-Texte aussagekräftig? Vermeiden Sie generische Linktexte wie „Hier klicken“. Verwenden Sie stattdessen klare und beschreibende Texte, die das Ziel des Links erklären.
  • Verstehen wirklich alle die wichtigsten Informationen? Bieten Sie eine Version der wichtigsten Inhalte in einfacher Sprache an, um sie für Menschen mit kognitiven Einschränkungen und für Nicht-Muttersprachler*innen verständlicher zu machen. Das „Büro für leichte Sprache“ der Lebenshilfe Bremen kann dabei helfen.