Aus dem Weser-Kurier vom 19. Juni 2010
Bremer Unternehmen gehen mit ihrer Kooperation neue Wege bei der Rekrutierung von Spezialisten.
Die IT- und Telekommunikationsbranche ist heute nach dem Maschinen- und Anlagenbau der zweitgrößte Arbeitgeber in der deutschen Industrie. Das zeigt ein aktueller Vergleich der offiziellen Zahlen der jeweiligen Verbände. Derzeit arbeiten in der deutschen ITK-Branche rund 846.000 Menschen. August-Wilhelm Scheer, Präsident des Branchenverbands Bitkom, ist sich sicher, dass die Branche weiter zulegen wird. Allerdings gibt es erhebliche Schwierigkeiten, hierfür ausreichend Fachkräfte zu mobilisieren. In Bremen greifen Unternehmen und Ausbildungseinrichtungen inzwischen zu unkonventionellen Methoden.
In der IT- und Telekommunikationsbranche sind zurzeit deutschlandweit rund 20.000 Stellen unbesetzt. Gesucht würden vor allem Mitarbeiter in den Bereichen Software und IT-Services, teilt der Branchen-verband Bitkom in Berlin mit. Der Bedarf an Personal werde im Laufe des Jahres voraussichtlich noch leicht wachsen. So gaben bei einer Branchenumfrage 53 Prozent der ITK-Unternehmen an, weitere Mitarbeiter einstellen zu wollen. Auch langfristig werde der Bedarf besonders an IT-Experten wachsen, prognostiziert Bitkom-Präsident Scheer, zum Beispiel durch den zunehmenden Einsatz von IT im Verkehr, in den Energienetzen oder auch im Gesundheitssystem. Wie finden Unternehmen genügend IT-Kräfte, vor allem gute Leute?
22 Bremer Firmen, die Universität, die Hochschule Bremen und das Schulzentrum Utbremen haben sich dazu etwas einfallen lassen, Bereits vor vier Jahren hatten die Universität Bremen und das Schulzentrum Utbremen die ersten Anstöße gegeben. Die Grundidee: Studienbewerbern, die sich für Informatik entscheiden, wird ein duales Studium angeboten. Es umfasst eine Berufsausbildung zum Fachinformatiker beziehungsweise zur Fachinformatikern mit der Fachrichtung Anwendungsentwicklung oder Systemintegration.
„Azudenten“
Dieser Teil der Ausbildung findet in den Betrieben vor Ort sowie in der begleitenden Berufsschule statt. Zeitgleich können die in diesem Fall „Azudenten“ genannten Kandidaten und Kandidatinnen durch ein Studium der Informatik an der Hochschule oder an der Universität einen Abschluss als Bachelor of Science erwerben. Die ersten Absolventen dieses dualen Studiums Informatik (DSI) schließen in diesem Jahr ihre Ausbildung ab.
Die Vernetzung und Koordination der Kooperationspartner will sorgfältig abgestimmt und geplant sein, sie ist kein Selbstläufer, auch wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen wollen. Grundlage der Zusammenarbeit sind Kooperationsverträge zwischen allen Mitwirkenden. Darüber hinaus sammelt der DSI-Förderverein des Branchenzusammenschlusses Bremen IT + Medien pro Jahr zwischen 60.000 und 80.000 Euro von den Firmen ein. Mit dem Geld werden zwei halbe Stellen an der Hochschule und an der Universität finanziert. Sie dienen der Koordination von Studium und Ausbildung, der Abstimmung der Lehrpläne und der gemeinsamen Terminplanung.
Christoph Ranze, Geschäftsführer des Bremer IT-Mittelständlers encoway, engagiert sich in dem Verbund seit Jahren. Sechs DSI-Absolventen durchliefen in den vergangenen drei Jahren diese neue, anspruchsvolle Form der Ausbildung in seinem Unternehmen. „Diese Kandidaten sind die mit Abstand besten, die wir je hat-ten“, schwärmt Ranze und sichert ohne Zögern zu, dass dieser Nachwuchs nach Abschluss der Ausbildung übernommen werden soll. Die vormaligen „Azudenten“ werden bei encoway das Angebot erhalten, mindestens ein oder zwei Jahre weiter im Unternehmen zu bleiben. „Wer will, kann anschließend den Master aufstocken“, sagt der Firmenchef.
Zuspruch gebe es inzwischen nicht nur aus Bremen, sondern auch von Interessenten aus anderen Bundesländern, berichtet Ranze. Obwohl dieses duale Modell offenbar kein Zuckerschlecken für die Absolventen ist – die Belastung ist für die Studierenden um rund 20 Prozent höher als bei einer herkömmlichen, eingleisigen Ausbildung – liegt die Abbrecherquote in der DSI-Ausbildung lediglich bei zehn Prozent.
Zum Vergleich: Üblicherweise beträgt diese Quote in der Fachrichtung IT zwischen 40 und 60 Prozent. Dieses Modell, ist Ranze sicher, lockt die besten und motiviertesten Fachkräfte nach Bremen. 30 bis 35 neue Ausbildungsplätze können derzeit auf diese Weise jährlich besetzt werden.
Für Jan-Christoph Thölken (21) war schon vor seinem Schulabschluss klar, dass der weitere Ausbildungsweg in die Informatik führen sollte. Auf DSI wurde er durch eine Zeitungsanzeige aufmerksam. Seine Bewerbung bei encoway hatte Erfolg. Vor wenigen Tagen schloss er seine Berufsausbildung als Fachinformatiker ab. Im kommenden Jahr will er sein paralleles Studium an der Universität Bremen mit einem Bachelor beenden. „Im Unternehmen kann ich genau diejenigen Kenntnisse anwenden, die ich an der Universität erworben habe“, freut sich Thölken. Ähnlich sei es mit Inhalten gewesen, die an der Berufsschule vermittelt wurden.
Ein „Spaziergang“ ist das aber offensichtlich nicht. „Täglich acht bis zehn Stunden, das ist normal“, berichtet der Nachwuchs-Informatiker. Und wie die meisten seiner Studienkollegen gehören auch ein bis zwei Tage Arbeit im Unternehmen noch dazu, um den Lebensunterhalt zu sichern. Nach dem Bachelor, so viel ist für Thölken klar, will er seinen Master in Informatik draufsetzen. Dem Unternehmen hat er angeboten, sich danach mindestens für zwei Jahre als fertig ausgebildeter Informatiker zu verpflichten.
Redakteur Reinhard Wirtz